Das Kino der Zukunft
Der Einfluß der Wirtschaft auf die Kulturproduktion
Gleichzeitig mit der massiven Einführung der digitalen Medien setzt sich die Globalisierung der Wirtschaft durch, die zu einer Austrocknung der Staatshaushalte führt und damit auch die öffentliche Förderung der Künste beeinträchtigt. Wirkt sich das merklich auf die Kultur aus?
EDGAR REITZ: Es sind nur noch solche Bereiche der Kultur realisierbar, die sich auch gesellschaftlich Raum verschaffen können, das heißt im Klartext, daß sie Sponsoren finden. Die Suche nach Sponsoren bedeutet inzwischen mehr, als nur Zusatzfinanzierungen zu finden: Die inhaltliche Kompetenz wandert zu den Sponsoren.
Man hat das vorerst nicht erkannt und argumentiert, wenn der Staat nicht mehr genug Geld für das Luxusgut Kultur aufbringen könne, dann müßten die Kulturveranstalter das durch Sponsoring der Wirtschaft ausgleichen, die sich damit ihr Image verbessern kann. Mit dieser Praxis ist aber ein tiefgehender Riß zwischen Kultur und Staat entstanden. Die Frage, was in der Kultur überhaupt noch realisierbar ist, hängt heute von Sponsoren-Entscheidungen ab. Wenn ich einen Sponsor finde, dann ist das für den Staat ein Argument geworden, auch zu fördern. Daß heißt, wenn er überhaupt zahlt, daß er es nur noch unter dieser Bedingung tut. Und da dreht sich etwas um, damit gerät die Entscheidung über Wert und Unwert kultureller Äußerungen, die Frage, was überhaupt intellektuelle Akzeptanz habe, in die Kompetenz der Leute, die in den Werbeabteilungen der Wirtschaft arbeiten. Wer sind diese Leute? Was haben sie gelernt? Welche Motive haben sie? Das Wort "Akzeptanz", aus der Werbung stammend, ist plötzlich im intellektuellen Bereich ganz selbstverständlich geworden.
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Was wird denn stärker gefördert? Gibt es einen bestimmten Druck auf die Kultur-Produktion?
EDGAR REITZ: Zunächst bemerken wir eine klare Tendenz zu den etablierten bürgerlichen Künsten. Im Theaterbereich wird die Oper natürlich am längsten überdauern, im Konzertbereich die klassische Musik mit ihren Plattenstars und natürlich alles andere, was kommerziell ist. Bei der Förderung von Kunst fällt auf, daß überhaupt nicht mehr nach Inhalten gefragt wird. Es wird einfach wie verrückt gesammelt. Jeder Bankier und Versicherungsheini legt sich, wenn er kann, ein paar Gemälde in den Tresor. Die bildende Kunst
verschwindet mehr oder weniger in den Tresoren der Banken. Es kommt zum Wettrennen mit den staatlichen Museen. Und dafür wird hemmungslos Geld ausgegeben.
Es sieht so aus, als wollte die Gesellschaft mehr und mehr auf den Hardwarebereich verzichten. Aber gerade wegen dieser Bestrebungen scheint es eine heimliche Sehnsucht nach materiellen Gütern zu geben. Nur von ihnen glaubt man noch, daß sie allen Krisen widerstehen können. Diese alte Sehnsucht nach Wertstabilität scheint bildende Kunst noch zu erfüllen, ebenso der ganze moderne Nippes, der aus dem Designbereich kommt. Das Sponsoring treibt uns alle in den Kommerz, zum Bürgerlichen und zum Besitzdenken hin.
Alle künstlerischen Äußerungen, die Fragen stellen, die sich aus den Traditionen der Avantgarde herleiten oder die sich gar Fragen im Sinne politischer Visionen stellen, Künstler, die experimentieren und Neues suchen, werden tendenziell nicht gefördert. Eine große Ausnahme bilden allerdings die experimentellen Künste, die sich am Rande der neuen Technologien abspielen und sie poetisch aufwerten. Deswegen kann man alle Experimente mit Computern, Video, Laser etc. gesponsort bekommen, alles, was mit Elektronik und Digitalisierung zusammenhängt. Hier hat die Industrie ein unglaubliches Angebot an inhaltsleeren Spielmöglichkeiten hervorgebracht. Jetzt sucht sie händeringend nach Leuten, die ihren Produkten Inhalte hinzufügen. So verändert sich der Kulturbegriff. |
Spezialeffekte und Filmdramaturgie des Hollywoodkinos
Worauf führen Sie das zurück? Vielleicht hängt es ja auch mit der Digitalisierung zusammen, mit den neuen Techniken, mit den neuen Produktionsweisen? Oder geht der Abgesang des Humanismus aus anderen Gründen hervor? Heute spielen ja Filme, die neue Techniken vorführen, am meisten ein. Sie demonstrieren entweder neue Effekte oder stellen Techniken in ihrer künftigen, möglichen Wirkung vor. Das ist im Augenblick der primäre Inhalt, der Kern der Hollywoodproduktionen. Diese Ausrichtung auf Technik, auch auf neue, technisch geprägte Lebewesen, verträgt sich wahrscheinlich nicht gut mit dem klassischen Humanismus.
EDGAR REITZ: Der amerikanische Film folgt einer kommerzialisierten Moral. Der Protestantismus, der einmal das ideologische Rückgrat Amerikas gewesen ist, hat sich auf bestimmte kommerzielle Muster reduziert. Die Medien arbeiten immer noch mit Begriffen wie Gut und Böse, mit der absoluten Maxime, daß das Gute zu siegen habe. Auch der alte Dualismus wird gepredigt, der ewige Zweikampf zwischen den Prinzipien des Dunklen und des Hellen. Darauf beruht die Konfliktdramaturgie des Hollywoodkinos.
Das ist auch in den Filmen so, die nichts anderes zu wollen scheinen, als Tricktechnik vorzuführen. Wenn Herr Schwarzenegger beispielsweise in einem "Terminator"-Film auftritt, der von vorn bis hinten mit Tricktechnik imponiert, dann muß sich die Handlung unbedingt um moralische Fragen drehen. Das Gute muß letztendlich siegen.
Die kommerzielle Spannungsdramaturgie wird, wie gesagt, immer noch aus dieser protestantischen Moral genährt, nur ist diese Moral inzwischen entindividualisiert. Sie enthält keine wirkliche persönliche Tragik mehr. Das handelnde Individuum ist nicht mehr in Widersprüche verwickelbar.
Dieses neue dramaturgische Prinzip, das nicht auf Moral, sehr wohl aber auf Menschen verzichten kann, läßt sich bereits mit Drehbuchcomputern einarbeiten. Es gibt die passenden Computerprogramme, die um die Welt kursieren, mit deren Hilfe man jeden Stoff mit dem passenden Konfliktschema aufrüsten kann. Der Computer rechnet einem die Handlung vor, und verspricht Erfolg, wenn man dem folgt. Es gibt seit Jahrzehnten diesen von der amerikanischen Konfliktdramaturgie und ihren Denkmustern strukturierten Markt. Ein weltweites Publikum ist nach und nach darauf konditioniert worden. Es fühlt sich nur noch in derartigen Lösungsmodellen heimisch.
Ich glaube, daß der Mensch ein natürliches Bedürfnis hat, mit der Fremdheit der Welt zurecht zu kommen. Die Welt ist aber immer wieder neu und fremd. Man sucht trotzdem das Vertraute in ihr, und fühlt sich nur wohl, wo man sich in einer vertrauten Art und Weise einrichten kann. Dazu taugen diese moralischen Prinzipien des Unterhaltungsmarktes, obwohl wir alle wissen, wie sehr sie uns täuschen, wie sehr sie die wirklichen Konflikte zudecken.
Was uns die Welt heute fremd macht, besteht zudem darin, daß wir uns über Gut und Böse kein Urteil mehr bilden können. Die Orientierung ist unglaublich schwierig geworden. Wir würden eigentlich eine noch höher differenzierte Moral benötigen, als vor den Weltkriegen, eine Moral, die auch mit Widersprüchen leben und umgehen kann. Die Tradition, aus der heraus wir diese Moral hätten entwickeln können, wurde gerade durch die Medien ruiniert. Wir haben seit dem 19. Jahrhundert in der Philosophie oder in der Literatur immer wieder die Auseinandersetzung mit dem Widerspruch oder mit der Ungereimtheit des Lebens führen müssen. Die gesamte Psychoanalyse beruht zum Beispiel darauf. Aber alle diese Errungenschaften kippt man im Augenblick über Bord.
Das hängt auch damit zusammen, daß Geschichte aus der Mode kommt. Was immer wir in die Hand nehmen, muß neu sein, und wir dürfen nicht mehr die Frage stellen, woher es eigentlich stammt. Sobald man historisch fragt, macht man sich unbeliebt, ist man ein Spaßverderber. Alle intelligenten Menschen wissen, daß die Gründe für die meisten Dinge, die wir tun oder benutzen nicht koscher sind. Wir alle wissen, daß kaum etwas so freundlich ist, wie es auf seiner Werbe-Oberfläche aussieht. Das intellektuelle Dilemma erzeugt auch Verdrossenheit, eine Müdigkeit, die sich vor allem in der Haltung äußert, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Die Zeit, die uns hervorgebracht hat, mit all ihren Herausforderungen, ungelösten Rätseln und moralischen Widersprüchen, scheint uns am Ende des Jahrtausends zu überfordern. Es ist ungeheuer beruhigend, wohltuend und entspannend, das ganze historische Denken loszulassen und sich den Segnungen des Augenblicks hinzugeben.
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Das Kino und das menschliche Gesicht der Stars
Kino war immer ein technisches Medium, das immer auch Spektakuläres anbot. Die Menschen haben stets erwartet, etwas zu sehen, was sie sonst nicht sehen können - zumindest nicht aus der Position eines sicheren Zuschauers. Im Film sind die Spektakel möglichst dicht aneinander gehängt. Diese "Montage der Attraktionen" kommt natürlich in den technisch geprägten Geschichten, in den Science-Fiction-Szenarien am besten zur Geltung. Das ist natürlich, wie Sie sagten, in die immer gleichen Handlungsstrukturen eingebettet, aber die Montage der Attraktionen wird offenbar zunehmend intensiver, um die Erwartungen der Menschen überhaupt noch befriedigen zu können .
EDGAR REITZ: Ich bin nicht sicher, ob sich das so verhält. Zunächst einmal kann man feststellen, daß sehr früh in der Filmgeschichte die Stars entstanden sind. Das waren Gesichter, denen die ganze Welt faszinierende Symbolkraft zugestanden hat. Es waren Gesichter, in denen alle Gefühle, in denen wir uns gerne wiederfinden, zum Ausdruck kamen. Offensichtlich hat man sich im Anblick dieser Gesichter immer wieder neue Fluchtwege aus der Welt schaffen können. Man konnte sich mit einem Lebensgefühl oder einer Über-Individualität identifizieren, die aller Nöte enthoben war. Sie besaß aber gleichzeitig auch etwas Vertrautes. Man findet den Star von Anfang an, und das Kino braucht ihn immer und überall. Stars erzeugen in dieser Welt, die einen auf immer schlimmere Weisen herausfordert, ein Gefühl der Sicherheit und der Permanenz. Ich glaube der Film wäre ohne die Stars nie das Weltmedium geworden, das er geworden ist. Die stärkste Wirkung auf der Leinwand schafft immer noch das menschliche Gesicht. Keine Technik und kein noch so spektakuläres Angebot an Tricks und niegesehenen Bildern können die Attraktion des menschlichen Gesichtes erreichen. Wenn wir im Kino miterleben, wie sich gerade im Augenblick der Projektion im Gesicht eines Darstellers die Emotionen bilden, ob das Haß ist oder Neid, Liebe oder Gier, dann bewegt das die Herzen aller Menschen und zieht sie in das Geschehen hinein. Dazu brauchen wir kaum Technik. Interessant ist, daß bereits das pure Abbild des menschlichen Gesichts diese enorme Wirkung hat.
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Schwarzenegger spielt im "Terminator" allerdings eine Figur, die weder eine großartige Geschichte hat, noch spiegelt sein Gesicht irgend etwas wieder. Ohne Ausdruck, ohne von etwas berührt zu sein, schreitet er durch die Welt. Ist das der nicht-humanistische Gegentypus?
EDGAR REITZ: Das ist wahr. Es gibt diese Fälle. Ich sagte nur, die Filmgeschichte wäre nicht ohne Stars entstanden. Schwarzenegger ist natürlich auch ein Star, aber sein Gesicht steht für etwas Neues. Er ist der supercoole Typ. Das ist der Typ, der in keiner Situation des Lebens die Miene verzieht. Aber er ist immer der Winner. Er verfügt über Kräfte, die in unserer Zeit enorm viel bedeuten. Da ist einmal der Kult des "Bodybuildings", dann die Verfügungsgewalt über enorme technische Hilfsmittel, mit denen man überall durchkommt und dabei "cool" bleiben kann.
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Ich glaube nicht, daß Schwarzenegger allein durch die Tricktechnik zu diesem großen Erfolg gekommen ist. Auch er verdankt seine Wirkung der Tatsache, daß er ein Star ist. Sein Gesicht drückt ebenfalls eine Sehnsucht unserer Zeit aus. Ich gebe zu, daß er nicht ganz mein Fall ist, weil ich von einem Schauspieler, so wie von jedem Menschen, erwarte, daß er seine Gefühle ausdrückt. Schwarzenegger hat auch einen Ausdruck - aber nur einen einzigen: Geradeaus durch! Aber auch dieses Terminator-Gesicht läßt hinter all seiner Computermimik noch Mitleid, Freundschaft oder andere verborgene Gefühle vermuten, Gefühle, die tiefer in seine Vergangenheit weisen.
EDGAR REITZ: Das war ja schon bei dem Frankenstein-Monster der Fall: Ein Kind fühlt plötzlich, daß das Monster, das alles vernichtet und herzlos und gefühllos ist, ein Freund sein kann, der ihm nie etwas antun würde. Das ist auch das Pathos hinter Schwarzenegger. Ich denke, es gibt nicht allzuviel Neues auf dem Gebiet der menschlichen Empfindungen. Es sind nur die Formen der Vermittlung verschieden.
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Wo es wirklich große Veränderungen geben kann, das ist der Bereich der Superstrukturen, in denen sich Organisationsformen von den Individuen ablösen: Konzernstrategien, Finanzmärkte, Zusammenballungen des Geldes, das Internet. Das sind die modernen Strukturen, die früher einmal der Staat repräsentiert hat. Heute spielt der Staat kaum noch mit und ist nur reaktiv, eines der schwächsten Teile solcher Strukturen. Er ist das älteste und gleichzeitig ausdrucksloseste Gebilde, das die Menschen sich leisten.
Die neuen Gebilde sind da anders: Sie prägen unsere Zeit. Der Humanismus würde uns als Individuen, mit unseren Lebensgefühlen, mit den Beziehungen, in denen sie entstehen - Familien, Freundschaften, Arbeitsplatz, usw. - nicht abhanden kommen. Er paßt nur nicht mehr zu den Konzernen, den großen Handelsketten oder der globalen Unterhaltungsindustrie. Und was nicht in den Medien herrscht, wird auch im Staat und in den Bildungssystemen keine Rolle mehr spielen.
Neue Erzählstrukturen?
Sie sagen, das Wichtigste in der filmischen Darstellung sei einerseits die Geschichte und andererseits der Mensch, der Ausdruck des Menschen, das Wiederfinden von bestimmten Typen. Die Bedeutung der Techniken und Effekte sei demgegenüber zweitrangig. Aber die Digitalisierung des Films ermöglicht nicht nur spektakuläre Effekte, sondern bietet auch Möglichkeiten an, Geschichten ganz anders als bisher zu erzählen. Man ist ja immer noch gewöhnt, eine lineare Geschichte erzählt zu bekommen, die vor uns aufgeblättert wird. Das Kino zwingt uns dazu, dieser Geschichte, die wie ein vorprogrammiertes Schicksal abläuft, zuzusehen, ohne in sie eingreifen zu können. Wir genießen diese Rolle des unbeteiligten Zuschauers, aber gleichzeitig fehlt uns etwas, nämlich daran beteiligt zu sein, weswegen vielleicht die Inszenierungen immer drastischer werden müssen. Wir haben zwar bereits über Video die Möglichkeit, den Lauf der Dinge zu unterbrechen, Szenen zu überspringen, wieder zurückzugehen oder Szenen zu wiederholen, aber das sogenannte interaktive Eingreifen in ein Geschehen, das keine lineare Erzählung ist, sondern ein Möglichkeitsraum oder sogar das Eintauchen in die Szenerie ist eigentlich das, was die digitale Technik als große Möglichkeit oder Verführung enthält. Glauben Sie, daß daraus eine neue Dimension des filmischen Erzählens erwachsen könnte? Oder ist das eine nur technische Verführung, die künstlerisch in eine Sackgasse läuft, auch wenn diese Möglichkeit in anderen Hinsichten ganz nützlich sein kann?
EDGAR REITZ: Über diese sehr attraktive Möglichkeit habe ich viel nachgedacht. Meine Frage ist, ob wir mit Hilfe der digitalen Techniken von den linearen Erzählformen wegkommen können.
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Das betrifft freilich nicht nur die Aufsprengung der Linearität, sondern auch die Auflösung des Massenkinos, in dem viele Menschen zur gleichen Zeit dasselbe sehen müssen.
EDGAR REITZ: Aber da beginnt schon das Problem: Warum sollen alle Besucher eines Kinos etwas anderes sehen? In gewisser Weise tun sie das seit jeher ohnehin: Wenn 500 Menschen in einem Saal sind und einen Film anschauen, dann können wir annehmen, daß im Grunde jeder einen anderen Film erlebt. Der Film wird ja überhaupt nur dadurch verständlich, daß man beim Betrachten seine eigene Lebenserfahrung mit ins Spiel bringt. So gesehen ist das mit der Interaktivität nichts Neues.
Wenn wir aber obendrein bestimmte Spielregeln anbieten, mit denen die Leute den Film selbst verändern können, dann muß man sich natürlich fragen, warum machen wir das und was wollen wir auf diese Weise Neues erzählen. Im ersten Moment erscheint es auch intellektuell attraktiv zu sein, solche Versuche zu machen, weil unsere Erfahrung des realen Lebens ebenfalls nichtlinear ist. Wir könnten nicht einmal durch die Stadt gehen, wenn wir unseren Weg nur linear verfolgen würden. In jedem Augenblick des Lebens durchkreuzen sich die verschiedensten Motive, Linien und Geschichten. Das Bild einer belebten Stadt oder eines Kaufhauses ist fast schon das Symbol dieser vielen Geschichten, die einander nur in Augenblicken kreuzen. Wenn ich mir beispielsweise 20 Quadratmeter Hauptbahnhof ausschneiden könnte und an dieser Stelle dem Publikum die Möglichkeit des Eingriffs anbieten könnte, dann würde es in das banale Bild eindringen und erleben können, daß es jedes Mal vollkommen andere Geschichten enthält. Das wäre ein außerordentlich interessantes Angebot und es entspräche auch unserem Grundtrieb, herauszubekommen, wo wir uns befinden.
Aber es gibt einen Haken: Das simultane oder nichtlineare Erzählen überfordert den einzelnen Erzähler. Er stößt hier auf so gewaltige Stoffmassen, daß sie niemand allein bewältigen könnte. Die Frage, welchen Faden er herausgreifen und verfolgen soll, verwandelt sich sofort in ein überindividuelles Problem.
Nehmen wir einmal an, das gesamte Fernsehprogramm würde aus Interesse an dieser Komplexität der Welt hergestellt, und es wollte sie unbedingt darstellen, dann könnte es als gewaltiges Medium, das es heute ist, die Produktionsform dafür finden. Das Verheerende am Fernsehen ist aber, daß es am alten Strukturdenken festhält. Jeder Redakteur fühlt sich als heimlicher Künstler und meint, daß er einen bestimmten Faden aus dem Wollknäuel der Welt herausziehen muß. Die Einteilung der Themen erfolgt in den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten besonders schematisch. Es gibt die Abteilung Kirche, die Abteilung Hausfrau, die Abteilung Musik oder was auch immer. Jedes Lebensgebiet hat bürokratisch seinen eigenen Raum, der dokumentarisch oder erzählerisch verwaltet und betrachtet wird, als gäbe es dieses Schema in der Welt auch.
Wir wissen, wie willkürlich solche Aufteilungen der Welt sind. Dieses Denken stammt noch aus den Strukturen der preußischen Kulturverwaltung und des Journalismus. Zeitungen ordnen die Dinge des Lebens auch so schön säuberlich. Da gibt es die Politik, den Sport, die Wirtschaft, die Kultur usw. Wegen dieser Strukturen ist das simultane Denken überhaupt nicht entwickelt worden. Am ehesten ist es noch in den "vermischten Nachrichten" oder in der Yellow Press zu finden, wo alles kunterbunt durcheinander gerät. Aber diese Art von Simultaneität ist mit einem großen Verlust an Wahrheit erkauft.
Wenn heute einer kommt, der noch so viel Verständnis für die neuen Technologien oder für ihre Philosophien mitbringt, dann ist er trotzdem nicht in der Lage, wirklich simultan zu erzählen. Schon an der kleinsten Nahtstelle reibt der einzelne Geschichtenerzähler sich auf. Man könnte, um das Beispiel aufzugreifen, über eine Sekunde auf zehn Quadratmeter Hauptbahnhof sein Leben lang arbeiten. Während man das macht, verändern sich aber die Verhältnisse, so daß am Ende nichts mehr, was man erzählt, noch wahr wäre.
Die Errungenschaft, die Welt durch die Verwendung digitaler Technologien erzählerisch in nicht-linearer Form darstellen zu können, erfordert neue Formen der Kooperation. Aber wer soll hier mit wem kooperieren? Zum Erzählen ist nicht jeder Mensch fähig, weil Talent dazu gehört. Die Erzähltalente sind nicht allzu dicht gesät, und sie sind, wie sie heute arbeiten, Konkurrenten. Auf dem Markt der Geschichten ist jeder Erzähler der Konkurrent, ja der Feind aller anderen. Außerdem müssen sie sich wegen der Eigenart dieses Marktes möglichst gut voneinander abgrenzen. Jeder, der schreibt, muß seinen eigenen Stil finden und sich als schreibendes Individuum hervortun. So bekommt er seine Aufträge. Aber genau diese Tugenden hindern ihn an der Kooperation mit nichtlinearen Erzählformen. Wenn ich heute die Zusammenarbeit von 20 Autoren organisieren möchte, wäre das nicht realisierbar, weil sie ununterbrochen ihre Namen nennen möchten. Man müßte ihnen anbieten, ihre individuelle Leistung stets kenntlich zu machen. Hier geht es ja um ihre Unverwechselbarkeit, die ihre Existenzbasis ist. Das gesamte Urheberrecht baut darauf auf. Man könnte vielleicht einen elektronischen Fingerabdruck in jede Äußerung einfügen, so daß der Autor immer sagen kann, was von ihm stammt. Aber selbst, wenn das machbar wäre, würde die Konkurrenz nicht aufgehoben sein, weil die gesamte Tantiemenverteilung aus dieser Rechnung heraus organisiert werden müßte. Das ist also ein ganz prekäres Problem, sobald wir über das bloße Trivialspiel hinausgelangen möchten.
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Das Modell der Computerspiele
Die digitalen Medien können auf der einen Seite die Vervielfältigung der Erzählperspektiven mit den genannten Schwierigkeiten ermöglichen, wobei die Frage auch ist, ob die Menschen so etwas überhaupt rezipieren wollen. Auf der anderen Seite gibt es die Möglichkeit der direkten Mitwirkung des "Zuschauers". Das kann man vielleicht am besten gegenwärtig am Modell der interaktiven Computerspiele sehen. Auch hier gibt es einen Bruch mit dem Massenkino und die Hinwendung zum einzelnen, der in das Geschehen mit hineingezogen wird. Das ist für weitere Zuschauer, wenn sie nicht Mitspieler sind, wahrscheinlich nicht weiter interessant. Die "Regisseure" müssen sich einen Handlungskontext ausdenken, der hinreichend interessant zum Durchwandern ist und auch genügend Freiräume hat. Mittlerweile werden in Hollywood gleichzeitig mit den Filmen bereits die Computerspiele mit derselben Story herausgebracht. Da scheint es also einen gewissen Druck zu geben, der auch eine Erwartungsveränderung widerspiegelt.
EDGAR REITZ: Computerspiele sind ohne Zweifel etwas Neues, weil hier bewegte Bilder in Echtzeit generiert werden und sich spielerisch in vielen Richtungen dirigieren lassen. Sie werden bald mit einem sehr hohen Realismus hergestellt werden können, so daß man in ihnen Dinge quasi-real erleben kann. Dadurch gewinnt man mit ihnen eine Art Zusatzleben, in dem die alltäglichen Regeln, die uns beherrschen, nicht mehr gelten und man gemeinsam mit anderen ein neues Versuchsleben praktizieren kann. Das ist so, als könnte man sein Leben korrigieren oder so oft leben, wie man will. Aber darin liegt letztlich doch eine Täuschung. Die Unterscheidungsfähigkeit zwischen Spiel und Wirklichkeit ist in jedem Menschen angelegt. Wenn wir nicht wahnsinnig sind, dann hat bereits jedes Kind diese Unterscheidungsfähigkeit.
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Ich glaube, das Wesentliche sind nicht die Unterscheidungskriterien und der Aufrechterhaltung oder Ausschaltung, sondern die Art dessen, wie man etwas rezipiert. Ist man nur Zuschauer oder Zuhörer, der sich eine Karte kauft, sich ins Kino setzt und einen Film sieht, oder partizipiert man direkt am Geschehen und wird ein Teil von ihm? Dieses Einbegreifen des ehemaligen Zuschauers macht die Spiele wohl für viele interessant. Da muß im Gegensatz zu einem Film auch gar nicht viel und in guter Qualität geboten werden. Schon einfach das Eintauchen in eine virtuelle Realität scheint viele Menschen an sich zu faszinieren.
EDGAR REITZ: Ich denke, wenn zu mehreren gespielt wird, ist man nicht nur mit den Grenzen des Spiels konfrontiert, sondern dann hat man es mit dem Gegenüber oder Mitspieler zu tun. Das ist etwas ganz Normales. Gespielt wurde immer. Das Spiel erhält hier nur weitere moderne Inhalte. Ein Spiel ist für zwei Personen ein abstraktes Ringen um bestimme Positionen, während ein Computerspiel unter Umständen viel mehr Menschen einbeziehen und bis ins Unbewußte hinein reichende Wirkungen hervorrufen kann. Ich kann mir gut vorstellen, daß solche Spiele zu hochqualifizierten Begegnungen führen, daß sie eine wirkliche Form der Kommunikation darstellen.
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Aber hat das mit Film etwas zu tun? Ist das eine Verlängerung, Erweiterung oder Überschreitung des Films?
EDGAR REITZ: Nein, es ist etwas grundlegend Anderes, und es ist auch nicht im eigentlichen Sinne narrativ. Es gibt innerhalb der Computerspiele durchaus narrative Angebote, aber es bewegt sich im erzählerischen Sinne nichts. Man begibt sich nur in einen vorgegebenen Raum. Erzählen hingegen ist bestimmt durch eine Grundsituation: einer erzählt und ein anderer hört zu. Hinter jeder Erzählung steckt die Haltung, daß einer den anderen eine Geschichte erzählt. Es geht darum, daß der Erzähler mit seiner Geschichte einen Weg beschreitet. Alle guten Geschichten führen vom Bekannten ins Unbekannte und betreten eine Welt, die dem Erzähler und seinem Publikum bis dahin fremd gewesen ist. Das Erzählen ist so alt wie die Menschheit. Eine gewisse Interaktivität hat auch da seit jeher stattgefunden. Die Mythenbildung ist zum Beispiel keine Sache einzelner Autoren gewesen. Alle Mythologien des Altertums sind untereinander verbunden und ihre Helden sind in Hunderten von Lesarten überliefert.
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Bieten die interaktiven Medien vielleicht eher das an, was man als Ritus bezeichnen könnte, also ein Gemeinschaftserlebnis, bei dem man etwas zusammen macht, während die Mythen eher die Erzählungen sind, denen man zuhört? Der Film würde dann wohl eher zu den Mythen gehören und die Computerspiele zu den Riten.
EDGAR REITZ: Ihre Unterscheidung gefällt mir. Riten kann man auch als Spielregeln sehen, die auf eine bestimmte Weise vollzogen werden müssen. Insofern sind Computerspiele durchaus mit Riten vergleichbar. Der Umgang mit ihnen nimmt auch etwas Rituelles an, sobald viele globale Mitspieler hinzukommen. Bei den Mythen verhält es sich anders. Ich habe immer wieder gesehen, daß das Publikum ein sehr starkes Verlangen danach hat, daß die Geschichten gut erzählt werden. Zum Mythos werden die Geschichten nur, wenn sie eine tiefe Symbolkraft enthalten und ihre Figuren unsterblich sind. Man kann als Erzähler Angebote aller Art machen, wenn aber die Geschichte nicht gut erzählt ist, dann verbreitet sie ein Gefühl der Enttäuschung. Das ist der Grund dafür, daß interaktive Eingriffe in Geschichten und selbstgemachte Erzählungen keinen Erfolg haben können. Sobald sich die Menschen selbst einmischen, gerät auch ein Mangel an Talent in die Geschichten und ruiniert sie.
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Das ist wie bei einem Musikinstrument. Wenn jemand nicht spielen kann, dann ist es meist weder für ihn noch für andere ein Genuß.
EDGAR REITZ: Ja, man freut sich, wenn jemand das kann. Genauso ist es beim Geschichtenerzählen. Jedes Publikum hat große Freude daran, einem hochtalentierten Erzähler zuzuhören. Nichtlineares oder interaktives Erzählen kann auf ganz andere Weise zu einem großen Ergebnis kommen, nämlich wenn viele große Talente beschließen würden, an einer großen Geschichte zu arbeiten. Dazu aber muß es neuartige Anreize geben, dazu muß es einen neuen Markt und eine neue Lust an diesem Abenteuer der Kooperation geben. Die Computerspiele geben darauf keine Antwort, denn sie ritualisieren nur das Bild.
Auch die Technikbegeisterung ist es nicht. Sie erschöpft sich schnell. Knöpfchen drücken und den Cursor bewegen, ist nicht lange interessant. Es hat sich auch gezeigt, wie schnell sich das Internetsurfen erschöpft. Man merkt schnell, daß es wie eine riesige Bibliothek ist und daß nie etwas Intelligenteres herauskommt als das, was ich frage. Deswegen bin ich immer nur mit mir selbst konfrontiert.
So faszinierend der Gedanke ist, ein Geflecht von simultanem Geschehen in der Erzählkunst widerzuspiegeln, so sehr merke ich, daß unser uraltes Autorenkonzept es verhindert. Das wird sich nicht ohne weiteres ändern. In der Musik ist es ein wenig anders. Hier haben sich seit den 60er Jahren die Gruppen gebildet. Schon bei den ersten Popgruppen ist diese Art von Kooperation und teilweise auch eine Entindividualisierung der Musik gelungen, daß unser Urbild von Textautoren und Komponisten verschwunden ist. Hier ist die populäre Musik weiter vorn, als alle anderen Künste. Möglicherweise bilden sich in einigen Jahren, analog zu den Musikgruppen, auch audiovisuelle Erzählergruppen aus bestimmten Subkulturen heraus.
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Das Kino der Zukunft
Aber es gibt doch einen großen Unterschied zwischen der Vielstimmigkeit in der Musik und einer möglichen Vielstimmigkeit in der Erzählung, die nicht gleichzeitig, sondern nur nacheinander wahrgenommen werden kann.
EDGAR REITZ: Technisch läßt sich das ja auf eine Fläche bringen. Man kann dem Publikum anbieten, an vielen Stellen aus der Linearität auszusteigen und in Seitenlinien zu wechseln oder in parallelen Spuren herumzusurfen. Dabei müßte man aber immer hochtalentierten Erzählern begegnen und stets mehr bekommen, als man selbst geben könnte. Der Autor möchte durch sein Werk anerkannt und geliebt werden. Er möchte als Individuum geschätzt werden und Erfolg haben. Das müßten diese Autoren, wenn sie in einer Gruppe arbeiteten, auf andere Weise erfahren, als bisher. Es ist ja unglaublich, welche Liebe und Verehrung Musiker in Gruppen, auch einzeln, ernten. Und es gibt Tränen und Selbstmorde, wenn sie ihre Gruppen verlassen.
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Eine gewisse Nähe zu Live-Auftritten von Musikergruppen hat auch das Kino. Es ist noch immer und im Gegensatz zum Fernsehen ein Gemeinschaftserlebnis. Man taucht gemeinsam mit vielen Menschen in eine Geschichte ein. Mit den interaktiven Medien, mit denen sich jeder Zuschauer seine Wege in einem "Film" aussucht, bricht dieses Gemeinschaftsereignis notwendig weg. Bald werden auch Filme vielleicht in Kinoqualität über die breitbandigen Netze ins Haus kommen, in dem die Bildschirme immer größer werden. Auch das zerstört dieses Gemeinschaftserlebnis, auch wenn dies nur im stummen Nebeneinandersitzen der Menschen im dunklen Projektionsraums des Kinos besteht. Aus diesen Entwicklungen könnte man wiederum ein mögliches Ende des Kinos vorhersagen. Sie meinen jedoch, daß gerade aus dieser Vereinsamung vor den Bildschirmen eine neue Lust am Kino erwächst, wobei es sich aber verwandeln müßte, um den neuen Bedürfnissen gerecht zu werden. Wie würde denn das neue Kino im virtuellen Zeitalter für Sie aussehen müssen?
EDGAR REITZ: Die meisten audiovisuellen Medien, und in erster Linie das Leitmedium Fernsehen, vereinzeln das Publikum. Sie wenden sich an die Menschen in ihrer privaten Sphäre. Deswegen nennt man sie auch die Heimmedien. Dazu gehören auch das Video und der Computer mit seinem Bildschirm. Er ist der Gipfel der Individualisierung. Es gibt Marktstrategien, die darauf abzielen, die Abnehmer vollkommen zu individualisieren. Als solche Individuen sind sie Gegenstand der Werbung.
Je größer das Angebot wird, desto stärker wird aber ein Bedürfnis nach Gemeinschaft, das Ausgehen, das Verlassen des Hauses, das Zusammenkommen an attraktiven Orten. Dazu gehören der Einkaufsbummel, Sportveranstaltungen oder der Gang im Sommer in den Englischen Garten. Man geht dorthin, wohin auch die anderen hingehen. Wir haben beide Neigungen in uns: Wir sind Höhlentiere, die sich abschirmen gegen die Gefahren der Außenwelt, wir sind aber auch Herdentiere. Die frühesten Menschen haben schon Bilder in ihre Höhlen gemalt und so offensichtlich bereits ein Unterhaltungsbedürfnis zu Hause befriedigt. Von diesem alten Trieb lebt das Fernsehen. Aber das Gemeinschaftsbedürfnis ist ebenso stark. Auch unsere Natur als Herdentiere müssen wir ausleben, sonst werden wir krank. Je mehr die elektronischen Medien sich ausbreiten, die uns alle an die private Höhle binden, desto deutlicher wird dieser Trieb, in die Öffentlichkeit zu gehen.
In den letzten Jahrzehnten hat dies vor allem die jungen Menschen motiviert, aber jetzt empfinden alle Altersklassen dieses Bedürfnis. Darauf antwortet das Kino. Die Attraktion für den Kinobesuch ist nicht mehr nur der Film, denn es wird nicht mehr lange dauern, und man kann jeden Film über das Internet hereinholen. Also muß etwas ganz anderes als Qualität hinzukommen. Der Film ist so eine Art Übereinkunft, wohin man geht. Er gibt dem Ausgehbedürfnis einen Namen und eine Adresse, aber er ist nicht der einzige Grund.
Das Zusammenkommen mit anderen enthält eine ganze Reihe von Hoffnungen: nach Begegnung, gemeinsamen Erlebnissen, dem Abenteuer des Kennenlernens von fremden Menschen usw. Darauf antworten die Kinos bisher kaum. Seit einiger Zeit frage ich mich, was nach dem Multiplex kommt. Das Multiplex ist nichts als eine Weiterentwicklung des Schachtelkinos der 70er Jahre. Man merkte eines Tages, daß sie wegen ihrer Kleinheit nur wieder die Wohnzimmerdimension anbieten, der man gerade entkommen wollte. Deswegen hat man die Schachteln wieder größer werden lassen. Die Neugier auf das, was außerhalb der Schachtel möglich ist, wird durch die Multiplex-Kinos nur sehr zögerlich bedient.
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Dafür reicht die Kneipe, die sich darin befindet, oder der Colastand nicht aus.
EDGAR REITZ: Die Kneipe, die meist ein Fast-food-Restaurant ist, oder die Bars sind zu wenig. Das Angebot an Gemeinschaft hinter den Ausgängen aus den verschiedenen Sälen ist viel zu vage. Man kann nicht, wie in einem Warenhaus, die Filme der gesamten Saison anbieten und dann erwarten, daß die Leute, die aus den Vorführräumen herauskommen, sich etwas zu sagen haben. Sie haben keinen gemeinsamen Nenner, und weil sie, wie beim Fernsehen, in ihren Interessen zersplittert werden, ereignet sich auch keine Gemeinschaftserfahrung, die man im öffentlichen Kino unbewußt sucht. Ich habe mich in Karlsruhe mit einem ganzen Team mit der Frage beschäftigt, warum die Menschen überhaupt ins Kino gehen. Die Frage war, was wir über den Film hinaus eigentlich erwarten. Zunächst ist das die Frage nach dem architektonischen Raum, der heute so gut wie nicht existiert. Die Multiplexe haben Flughafen- oder Bahnhofsatmosphäre, die aus den Schachteln entwickelt wird. Nach dem Multiplex wird aber ein Kinotyp Erfolg haben, der nicht mit vielen Sälen und einem notdürftigem Kommunikationsangebot arbeitet, sondern, der umgekehrt nur einen Saal, aber ein vielfältiges Kommunikationsangebot besitzt.
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Derzeit muß ja alles - vom Flughafen oder Bahnhof über das Kaufhaus oder die Fußgängerzone bis hin zum Schwimmbad oder Museum - zu einem Erlebnisort, wie man sagt, inszeniert werden, um noch attraktiv zu sein. Einkaufen alleine, Abfliegen oder Ankommen alleine, Bummeln, Anschauen oder Schwimmen und in der Sonne liegen alleine reichen nicht mehr. Also reicht nur das Anschauen eines Films auch nicht. Steht hinter dieser ganzen Erlebnisinszenierung und -erwartung nicht die Tendenz, die einzelnen Angebote und Tätigkeiten, die in unseren Städten, abgesehen von den Freizeitparks und Shopping Malls nach amerikanischen Vorbild, noch getrennt waren, zu einem Angebot zusammenzuführen? Ähnlich wie man vor dem Fernseher oder im Internet alles durchzappen und vorhanden haben will, soll nun an bestimmten Orten alles zusammengeführt werden. Erlebnis also durch Vielfalt, Abwechslung und prompte Wunscherfüllung. Das Kino ist dabei nicht das Zentrum, um das sich vieles aufbaut, sondern nur ein Element unter vielen anderen. Würde eine Kinokonzeption in Ihrem Sinne diesem Trend wirklich etwas entgegenzusetzen haben?
EDGAR REITZ: Oft begegnet man der Ansicht, Unterhaltung sei dasselbe wie Zerstreuung. Das ist aber gegenwärtig nicht wahr. Zerstreuung wird am allermeisten Zuhause durchs Fernsehen geboten. Unbewußt wird aber Sammlung, eine ganz intensive Zentrierung der Interessen gesucht. In unserer Gesellschaft und in unserer Zivilisationsgeschichte haben wir diese Art von Zentrum verloren. Wir haben keine religiösen, politischen, historischen oder intellektuellen Zentren mehr. Dieser Mangel wird immer stärker empfunden. Ein wirklich zeitgemäßes, erzählerisches Medium, wie es das Kino sein kann, hat ganz besonders diese Eignung, zu einem Ort der Sammlung zu werden. Also nicht der Flughaufen oder Erlebnispark, sondern das Kino, in einem Gebäude ganz eigener Art mit einem wechselnden, aber immer auf Film und Anlaß bezogenen Angebot, das einen großen, aber aufeinander bezogenen Gefühlsreichtum enthält. Das wäre eine große Erfindung.
Das neue Kino hängt natürlich auch von einer neuen Art von Filmen ab. Die Filme wurden bisher ohne Bewußtsein für diese Art der qualifizierten Begegnung in neuen Kinos hergestellt. Die klassische Dramaturgie schließt sich ab, weil wir ja wissen, daß wir nach der Vorstellung auf die Straße gespült werden. Die Menschen wollen aber, ehe sie nach Hause gehen, mit dem Film fertig sein. Das befriedigende Gefühl, durch Himmel und Hölle gegangen zu sein und dann die Welt wieder in Ordnung zu finden, dieses Grundanliegen des alten Kinos, stimmt für das Kino, das ich meine, nicht mehr. Erforderlich dafür ist eine gewisse Offenheit, wenn auch nicht eine Aussichtslosigkeit der Probleme. Hier könnten später einmal sogar neue Formen der Simultaneität verwirklicht werden.
Warum sollen die Säle Imitationen des Sprechtheaters bleiben, auf eine einzige Leinwand ausgerichtet? Natürlich ist jede Projektionsfläche ein Fenster in die Welt, aber es muß nicht nur ein solches Fenster geben. Man kann sich Räume vorstellen, in denen mehrere Projektionsflächen wären, die vielleicht in bestimmten Augenblicken der Handlung in Erscheinung treten. Auch die Bestuhlung müßte neuartig sein und auf eine bequeme Weise den Blick in verschiedene Richtung ermöglichen. Verbunden wäre das Kino der Zukunft mit ganz raffinierten Beschallungsanlagen, durch die man geführt wird, weil der Schall eine andere Ausbreitung im Raum hat als das Bild. All das kann zu ganz neuen Formen der Filmgestaltung führen. Aber die Filmemacher lernen erst dann, mit neuen Ausdrucksweisen umzugehen, wenn es das Kino als neue Begegnungsform mit dem Publikum gibt.
Zuerst wurde das Kino, der Raum und die Projektion erfunden, und dann kamen erst die Künstler und machten, was darin möglich war, Filmkunst. So wird es auch in Zukunft sein. Wenn wir neue Räume erfinden, dann wird man darin eines Tages auch andersartige, vielleicht simultan-nichtlineare Filme spielen. Bis jetzt ist die Projektion an eine Projektionskabine und an ein schwerfälliges Projektionsgerät gebunden. Elektronische Projektoren hingegen können überall im Raum angebracht werden. Die Verzerrungen, die durch schräge Projektionswinkel entstehen, lassen sich wegrechnen. Man kann die Projektoren sogar auf Laufschienen anbringen, so daß sie aus jedem Winkel des Raumes, wie ein Scheinwerfer, projizieren können. Die 35mm-Qualität wird heute mit den neuen Beamern schon erreicht. Bald werden wir auch noch höhere Auflösungen haben können, als mit dem herkömmlichen Film. Der Zuschauer kann bei den großen Bildern dann nicht mehr unterscheiden, ob sie von einem Film oder aus einem Computer kommen.
Der Raum selbst könnte vollkommen beweglich sein. Die Zuschauerplattformen ließen sich hydraulisch neigen und kippen. Ich habe einmal einen Entwurf für ein Kino als Nachbildung des menschlichen Auges angefertigt. Wo wir auf der Netzhaut die Rezeptoren haben, saßen die Menschen. Der Blick ging durch die Pupille in die Welt hinaus. Ein solches Auge kann sich auf alles richten.
Man kann sich also unglaublich viele verschiedene Versionen von Kinos vorstellen, die sehr attraktiv sind. Man muß sich vorstellen, daß man nicht nur hereinkommt, den Film sieht und dann wieder auf die Straße geht, sondern daß der Film sich in vielen Versionen im Gebäude fortsetzt. Die Mailänder Scala beispielsweise macht bis zu vier Pausen pro Oper. Ohne diese Pausen wäre die Oper längst untergegangen. Das Opernpublikum braucht die Begegnung miteinander. Mit Pausen könnte das Kino die Menschen einfangen und dann verändert wieder in die Erlebniswelt des Films zurückführen. Filmemachen wird in Zukunft nicht nur bedeuten, ein dramaturgisches Konzept auf einen Zelluloidstreifen zu übertragen. Das künstlerische Endprodukt wird ein anderes sein. Zum Beispiel, das ganze Haus und den ganzen Abend zu gestalten. Das ist das Kino, von dem ich glaube, daß es nach dem Multiplex kommt. Es wird die modernen Techniken nutzen und neue Räume erfinden. Wir sind in unserem sozialen Verhalten schon seit 10000 Jahren interaktiv. Das Kino findet in der realen Öffentlichkeit, mitten in unserer sozialen Wirklichkeit statt. Eine virtuelle Kommunikation brauchen die vereinzelten Menschen, die Zuhause, abgekoppelt von der sozialen Erfahrung, vor den Bildschirmen sitzen. |